More Notes from the Nuthouse

Hallo, hier ist Nina. Ich bin jetzt Frau Doktor. Und was macht man, wenn man einen Doktor hat? Richtig. Man geht dann in ein Krankenhaus. Nur bin ich nicht hier um zu arbeiten. Sondern um mich von der Arbeit zu erholen. Und zu lernen, wieder besser mit mir umzugehen. Denn ich habe nicht nur einen Doktortitel, sondern immer noch eine emotional-instabile Persönlichkeitsstruktur. Kurz: Borderline. Und, ja. Damit kann man promovieren. Man kann damit auch ganz gut leben. Wenn man etwas auf sich aufpasst. Und das hab‘ ich nicht getan. Drum bin ich nochmal in der Klinik. Wieder eine Station für Suchtkranke und Persönlichkeitsgestörte. Nur in einer anderen Stadt. Und vermutlich nicht sehr lange. Denn im Vergleich zu diesem Ort erscheint mir die Station in Hamburg gerade wie eine anthroposophische Privatklinik in einem exklusiven Luftkurort. Aber der erste Eindruck mag auch täuschen. Das hoffe ich zumindest. Und hier werdet ihr’s erfahren.

Abschied

Die Koffer sind gepackt.
Menschen wurden umarmt.
Abschiedsworte gesprochen.

Ich verlasse jetzt das Irrenhaus und kehre in die Normalität zurück.

Die mich persönlich kennen werde ich bald in gewohnter Umgebung wiedersehen. Allen anderen wünsche ich weiterhin genug Verrücktheit um die Realität dort draußen auszuhalten.

Dieser Blog ist nun zu Ende. Und eine Fortsetzung nicht vorgesehen.

4 zu 96

Heute war das Abschlussgespräch mit meiner Therapeutin. Unspektakulär. Ich erhielt den vorläufigen Entlassungsbrief. Statt Therapieverlauf und Beurteilung enthält er lediglich meinen Zustand zur Aufnahme. Und den hatte ich noch gut in Erinnerung.

Ganz beiläufig teilte sie mir noch meine Testergebnisse der Borderline-Symptom-Liste (BSL) mit. Diese setzt sich aus 95 Fragen zu den Themen Selbstwahrnehmung, Affektregulation, Autoaggression, Dysphorie, soziale Isolation, Intrusionen und Feindseligkeit zusammen. Ich erzielte einen Gesamtrangwert von vier.

Vier bedeutet, dass 96 Prozent aller Borderliner an schwereren Symptomen leiden als ich. Was ich schon während meines Aufenthalts diffus vermutet und mir am letzten Tag nun mehr als bestätigt wurde: Ich bin ein Borderliner light. Fast schon zu unauffällig, um als pathologisch zu gelten. Und – den Test hatte ich vor meiner Aufnahme gemacht.

Jetzt bin ich auf den Befund im endgültigen Entlassungsbrief gespannt. Nach den Entwicklungen der letzten Wochen dürfte ich weit ungestörter als jeder deutsche Durchschnittsbürger sein. Und wenn ich mich draußen so umschaue, überrascht mich das auch nicht.

Mind Shaping

Meine letzten Tage. Zwölf Wochen Psychiatrie gehen zu Ende. Zeit Bilanz zu ziehen.

Wenn ich mich Frage, ob es richtig war hierherzukommen, ist die Antwort: unbedingt. Veränderung ist möglich – und war in meinem Fall wenn nicht notwendig, dann auf jeden Fall heilsam. Ja, Systeme wehren sich gegen Veränderung. Zumal die Angst besteht nicht zu wissen, was dabei herauskommt. Was macht mich aus, was bleibt von mir übrig, wenn ich entscheidende Denk- und Verhaltensweisen ablege? Eine wesentlich zufriedenere, mitfühlende und entspanntere Version meiner selbst.

Ich habe Waffenstillstand mit mir geschlossen. Meine Persönlichkeitsstruktur als Resultat genetischer Veranlagung und einer Lebensgeschichte akzeptiert, die ich mir nicht ausgesucht habe. Für deren Handlungen ich jedoch die Verantwortung trage. Ich habe eingesehen, dass es keinen Sinn macht, sich dauernd selbst zu bekämpfen, um zu vermeintlichen Höchstleistungen anzutreiben. Meine Kinder würde ich auch nicht so behandeln. Wenn ich an der Entwicklung einer Person interessiert bin, ermutige, motiviere und unterstütze ich sie. In einem netten und verständnisvollen Ton mit mir zu sprechen, ist tatsächlich eine völlig neue Erfahrung. Und fühlt sich verdammt gut an. Mir ist nur nicht verständlich, warum ich nicht früher darauf gekommen bin.

Ich habe zudem etwas entdeckt, was ich als „selektives Denken“ bezeichnen möchte. Mir ist klar geworden, dass ich entscheiden kann, was ich denke. In einem viel größeren Umfang als erwartet. Das geht weit über die abgedroschenen Sprüche zu positivem Denken und halbvollen-halbleeren Gläsern hinaus, für die ich kaum ein müdes Lächeln übrig hatte. Mich von verfestigten Grundannahmen von mir und der Welt zu lösen, die mir so selbstverständlich und damit nicht mal bewusst waren, eröffnet einen ungeahnten Gestaltungsspielraum. Und gibt mir Macht über mich, meine Gefühle und Wahrnehmungen. Das gelingt natürlich nicht immer, eher manchmal. Aber dieser Muskel lässt sich sicher noch trainieren.

Ich habe hier einige wundervolle und schöne Menschen kennengelernt, die mir geholfen haben auch den schönen und liebenswerten Menschen in mir selbst zu sehen. Und auch wenn mir dieser Ort nicht fehlen wird, der mir trotz allem irgendwie zu Hause geworden ist, werde ich diese Personen sehr vermissen.

Ich durfte zudem erkennen, welch großes Glück ich habe, mit meiner Veranlagung und Persönlichkeitsstruktur ein so wunderbares Leben zu führen. Dies ist vielen hier nicht vergönnt. Ich habe tolle Freunde, berufliche Verwirklichung und großartige Männer an meiner Seite gehabt, die ich leider nicht immer mit der Wertschätzung behandelt habe, die sie verdient hätten. Mein Leben war schon schön, bevor ich hierher kam. Jetzt fühlt es sich hoffentlich auch endlich so an.

Emotionen

Ein zentraler Baustein der Therapie ist der Umgang mit Gefühlen. Ich habe Gefühle als das Lern- und Handlungsfeld identifiziert, aus dem ich den größten Erkenntnisgewinn und praktischen Nutzen im ganzen Angebot hier ziehen kann. Die Lehrmaterialen lesen sich wie ein Nachhilfebuch für Gefühlslegastheniker. Und das möchte ich niemandem vorenthalten. Und es hat etwas Faszinierendes und zum Teil Amüsantes, Gefühle auf derart simple und strukturiert rationale Weise dargestellt zu bekommen. Und auch das möchte ich niemanden vorenthalten. Es folgen Auszüge aus dem Lehrbuch, zitiert und paraphrasiert. Und bis auf wenige Ausnahmen ausnahmsweise unkommentiert.

Was sind Emotionen?

Emotionen sind automatisierte und erlernte Reaktionen auf innere und äußere Reize oder Informationen. Emotionen drängen zu bestimmten, ebenfalls automatisierten oder erlernten Handlungen. Emotionen sind kurz und rasch wechselnd, Stimmungen hingegen länger und stabiler – wie Wetter und Klima. Emotionen steuern unser Verhalten, auch im Vorfeld, indem wir unangenehme Emotionen meiden und angenehme Emotionen suchen.

Emotionen können uns wichtige Informationen über eine Situation geben und schlagen einen der Situation entsprechenden Handlungsimpuls vor. Jede spezifische Emotion wurde dazu entwickelt, uns zu ganz bestimmten Handlungen zu drängen. Das ist der eigentliche Sinn der Emotion. Aber es steht uns frei, in unserem Tun der Emotion nachzugeben oder bewusst anders zu handeln. Je stärker die Emotion desto schwieriger ist es jedoch, den Handlungsimpuls zu steuern. Auch unser Denken schaltet sich synchron zu den Gefühlen. Erinnerungen, die mit dem Gefühl zusammenhängen werden wachgerufen. Je stärker die Emotion, desto stärker werden die Erinnerungen und desto eingeengter wird das Denken. Eine aktivierte Emotion hat somit Auswirkungen auf das Denken und Handeln, aber auch auf die Wahrnehmung und Körperreaktion. So deuten wir Dinge im Licht der Emotion und nehmen eine Körperhaltung an, die der Situation entspricht. Die Intensität der Emotion hängt ganz davon ab, wie viele der vier Komponenten – Wahrnehmung, Denken, Körperreaktion, Handlungsdrang – gleichzeitig aktiviert werden.

Wann wird eine Emotion zum Problem?

Es gibt eigentlich nur drei Möglichkeiten, bei denen eine Emotion zum Problem wird:

  1. Die Emotion ist nicht gerechtfertigt, das heißt, sie entspricht nicht den realen Bedingungen.
  2. Die Emotion ist zwar gerechtfertigt, entspricht also den realen Gegebenheiten, aber sie ist zu intensiv.
  3. Die Emotion ist zwar gerechtfertigt, aber der Betroffene wehrt sich, die entsprechenden Konsequenzen aus der Emotion zu ziehen.

Und jetzt kommt die fast philosophische Frage:

Wann ist eine Emotion gerechtfertigt?

Grundsätzlich ist eine Emotion subjektiv immer stimmig. Das heißt, der Betroffene ist sich in aller Regel sicher, dass diese Emotion ihre Berechtigung hat. Er wird daher dazu tendieren, der Emotion zu glauben und entsprechend zu handeln. Nicht immer ist jedoch gewährleistet, dass die Emotion passend zur gegenwärtigen Situation ist. Wie findet man heraus, ob eine Emotion der Situation angemessen ist? Stellen Sie sich einen Freund oder Freundin ohne emotional instabile Persönlichkeitsstörung vor und fragen Sie sich, wie diese in dieser Situation reagieren würde.  (Toller Tipp. Ich würde mir nicht anmaßen wollen zu beurteilen, wer in meinem Freundeskreis emotional nicht auf die eine oder andere Weise gestört ist.) Wenn Sie so feststellen, dass Ihre Emotion nicht angemessen ist, versuchen Sie diese durch entgegengesetztes Denken und Handeln und durch entgegengesetzte Körperhaltung abzuschwächen. Ist das Gefühl der Situation angemessen und nicht zu intensiv, folgen Sie dem Handlungsimpuls  und tun Sie, was das Gefühl Ihnen rät.

Hierzu einige Auszüge aus den Gefühls-Infoblättern, die Orientierung bieten sollen:

Ärger und Wut. Wann sind Ärger und Wut angemessen? Wann immer Sie sich mit Recht bedroht fühlen oder jemand Sie daran hindert Ihre Ziele umzusetzen. Meistens ist es jedoch förderlich, Wut und Ärger nicht in voller Wucht zum Ausdruck zu bringen, sondern den Zeitpunkt und die Intensität sinnvoll zu wählen. Wie kann ich der Wut entsprechend sinnvoll handeln? Zunächst gilt es, Wut und Ärger wahrzunehmen und als sinnvoll einzuschätzen. Im zweiten Schritt ist abzuschätzen, wie man seine Ziele und Interessen am besten durchsetzen kann. Da lebensbedrohliche Situationen sehr selten sind, sollte man in der Regel üben, Wut und Ärger dosiert, wirkungsvoll und gezielt einzusetzen.

Angst. Angst ist immer dann gerechtfertigt, wenn man selbst oder jemand Nahestehendes tatsächlich gegenwärtig oder in naher Zukunft bedroht ist oder wenn man in Gefahr ist, etwas sehr wichtiges zu verlieren. Wie kann ich der Angst entsprechend sinnvoll handeln? Wenn man real bedroht ist, macht es Sinn zu fliehen, sich Hilfe zu holen, die Angst zu kommunizieren und sich zu wehren.

Ohnmacht. Ohnmacht ist eigentlich nur dann gerechtfertigt, wenn Ihnen oder jemand, der Ihnen sehr nahe steht, tödliche Gefahr droht, aus der es kein Entrinnen gibt. Dies ist äußerst selten der Fall. In den allermeisten Fällen gibt es entweder Lösungen oder die Möglichkeit der (radikalen) Akzeptanz. Wie kann ich der Ohnmacht sinnvoll handeln? Da das Gefühl fast nie berechtigt ist, kann ihm eigentlich keine sinnvolle Handlung folgen.

Scham. Scham ist immer dann berechtigt, wenn Sie tatsächlich Gefahr laufen, soziale Attraktivität zu verlieren. Entweder weil Sie sich so darstellen, dass andere sie abwerten werden oder wenn Sie unter Wert behandelt werden. Wie kann man der Scham entsprechend sinnvoll handeln? Wenn Sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt haben, macht es Sinn sich eine Weile zurückzuziehen, die Kompetenz zu verbessern oder bescheidener aufzutreten. Wenn Sie von anderen gedemütigt werden, macht es Sinn sich zu verteidigen und darum zu kämpfen gerecht behandelt zu werden.

Stolz. Stolz ist immer dann gerechtfertigt, wenn Sie eine Leistung erbracht haben, das heißt sich stark angestrengt haben und erfolgreich waren. Man kann auch auf die Anstrengung stolz sein, wenn diese nicht zum Sieg gereicht hat. Wie kann man dem Stolz entsprechend sinnvoll handeln? Wenn Sie sich zu Recht Stolz fühlen ist es folgerichtig, dass Sie dieses Hochgefühl zulassen und mit Ihren Freunden oder manchmal auch der Öffentlichkeit teilen. Wenn die Umgebung diese Leistung anerkennt, wird sie sich gerne mit Ihnen freuen und ihnen die entsprechende Anerkennung zollen.

Eifersucht. Immer wenn eine wichtige Beziehung tatsächlich gefährdet wird oder wenn ich trotz Anstrengung nicht die Nähe zu einer mir wichtigen Bezugsperson bekomme, ist Eifersucht gerechtfertigt. Wie kann ich der Eifersucht entsprechend sinnvoll handeln? Es ist notwendig zu überprüfen, ob man wirklich ein Anrecht auf eine exklusive Beziehung hat und tatschlich die Gefahr besteht, aus dieser Beziehung ausgeschlossen zu werden. Paarbeziehungen erfordern bisweilen harte Auseinandersetzungen darüber, was einem Dritten gestattet ist und was nicht. Dann ist es sinnvoll dafür zu sorgen, dass ich für einen Partner attraktiver bin als die Konkurrenz. Das kann sowohl die körperliche (sexuelle) als auch die intellektuelle Attraktivität als auch alles andere sein, was die Partnerschaft stabilisiert z.B. Sicherheit und Geborgenheit. Wichtig ist, diese Bemühungen dosiert einzusetzen, da bisweilen übertriebene Eifersucht den Partner sehr stark einengt und in die Flucht schlägt.

Lust und Begehren. Lust rechtfertigt sich zunächst aus sich selbst. Lust und Begehren flüstern ihnen gute Gründe ein, dem Verlangen nachzugehen. Wenn die Lust sehr stark ist, versucht sie Sie zu überreden alle Vernunft fahren zu lassen. Und manchmal liegt gerade genau darin der Reiz. Ob Lust gerechtfertigt ist oder nicht, hängt auch davon ab, ob die jeweiligen Verhaltensmuster mit ihren eigenen Werten und Zielen übereinstimmten. Wie kann man der Lust entsprechend sinnvoll handeln? Tun Sie, was Ihnen Ihre Lust rät. Konzentrieren Sie sich auf den Augenblick. Versuchen Sie loszulassen und den Moment zu genießen.

Falls jemand Interesse an mehr Informationen zu diesen oder Bedarf an weiteren Gefühlen hat, ich kann sie alle besorgen.

Und zum Schluss: Was macht man bei besonders schmerzhaften Emotionen?

Emotionssurfing. Emotionales Reagieren ohne zu handeln („Reacting without Reaction“). Damit soll man lernen negative Gefühle auszuhalten. Hier die Handlungsanleitung:

Machen Sie sich bewusst, Sie haben eine Emotion. Sie sind nicht ihre Emotion. Treten Sie einen Schritt zurück, schaffen Sie Raum zwischen sich und der Emotion. Versuchen Sie Ihre Emotion nicht zu blockieren. Versuchen Sie Ihre Emotion nicht zu unterdrücken. Versuchen Sie nicht Ihre Emotion loszuwerden. Erleben Sie Ihre Gefühle so stark sie eben sind. Niemand stirbt an Emotionen. Erleben Sie Ihre Emotion! Beobachten Sie den Handlungsdruck und belassen es dabei.

Nein, an Gefühlen ist noch niemand gestorben. Es fühlt sich nur manchmal so an.

Krankenhausballettmaschine

Zehn Wochen hier. Zehn Wochen auf den Fluren des Krankenhauses. Frühmorgens, mittags, nachts. Zehn Wochen stille Beobachtung des täglichen Balletts. Eine Choreographie aus Schwestern in blauen Kitteln, Putzkräfte mit roten Wischeimern. Von links tritt auf: Der Wäschedient. Gestapelt überquellende Säcke auf Fahrgestellen vorbeigeschoben. Auftritt rechts: Die Wagen des Versorgungsservices. Kistenstapel Nahrungsmittel ziehen vorbei. Schichtwechsel. Ein Kommen, ein Gehen, funktionierende Abläufe. Ein Stück in mehreren Aufzügen. Alles wiederholt sich. Auch der Speiseplan. Alle vier Wochen. Man weiß mittlerweile um die Essbarkeit der Dinge.

Jeden Morgen von vorn. Vorbeiziehende Krankenbetten. Rollstühle mit Geriatriepatienten, aus sich öffnenden Türen geschoben und in Zweierreihen auf dem Flur geparkt. Die Pfleger rangieren mit der Empathie von Einkaufswagenordner auf Supermarktparkplätzen. Hinten zwei ran, vorne zwei weg. Rollbare menschliche Gegenstände. Die Alten verharren als wären sie nicht da. Resigniert oder stoisch ist nicht auszumachen. Eingefallene Schultern, Hände in den Schoß gefaltet, Kopf seitlich nach vorn geneigt. Wartend. Aber worauf? Weitergeschoben zu werden, umgeparkt oder doch schon auf den Tod? Ich schaue auf die aufgereihten Rollkörper und bekomme Angst alt zu werden.

Es folgt der Aufzug der Adipositaspatienten. Lebende Erwin Wurm-Exponate auf dem Weg zum Sportraum. Ein Zynismus des Raumprogramms führt an der Tortenauslage vorbei. Auf dem Rückweg hat sich ihr Aggregatzustand verändert. Schmelzend. Torten und Menschen. Daneben die Frauen der Anorexieabteilung, ihr fleischgewordenes Negativ. Auf das Überlebensnotwendige reduzierte Körper, vogelartig. In kleinen Schaaren stehen sie rauchend zusammen. Man möchte ihnen Krumen zuwerfen. Helfen würde es nicht. Alle abgekommen vom Mittelweg, der als Schnellstraße zur Normalität gepriesen wird. Die ganze Maschinerie auf Herstellung dieses Zustandes ausgelegt. Und doch weiß keiner, was das sein soll.

Aber die Maschine läuft. Aufnahmen und Entlassungen am Fließband. Sie kommen, sie gehen. Von manchen hört man wieder. Geschichten vom Scheitern. Und manchmal kommen sie wieder. Wenn sie dürfen. Und die Maschine läuft. Die Maschine funktioniert. In Prozessen und Abläufen. Nur funktionierende Menschen produziert sie nicht.

Mathematik der Kommunikation

Ich habe hier grundlegende Dinge über Kommunikation gelernt.

Nach meiner Erfahrung nimmt im professionellen Kontext die Ergebnisqualität von Gesprächen mit der Anzahl der Teilnehmenden exponentiell zu. Vorausgesetzt die Beteiligten sind an einer konstruktiven und themenfokussierten Diskussion interessiert. Bis der Extremwert erreicht ist, summiert sich das Wissen der Anwesenden, geht neue Verbindungen ein und der Erkenntnisgewinn liegt höher als die Anzahl der Teilnehmenden Man könnte es mit folgender Funktion beschreiben:

   f(x) = – 1/8(x-6)2 + 12

Wobei x die Anzahl der Teilnehmenden abbildet und f(x) die im Gespräch generierten Erkenntnisse und die Ergebnisqualität.

Hier ist es anders.

Wenn mehr als zwei Menschen zusammenkommen, passen sich Inhalt und Gesprächsniveau dem schwächsten Glied der Kette an. Man einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, mathematisch korrekter das kleinste gemeinsame Vielfache. Man multipliziert alle Zahlen unterm Strich. Das wird eine hohe Zahl. Die ungefähr die Quantität der in den Raum geworfenen Worte widerspiegelt. Unterm Bruch stehend symbolisiert die große Zahl aber auch ihre Qualität, heißt die damit transportierten Inhalte. In einer Funktion würde es sich entsprechend so darstellen:

f(x) = -2 (x-2)2 + 2

Der Scheitelpunkt dieser nach unten geöffneten Parabel liegt wie im normalen Leben bei S(2/2). Zweiergespräche bieten die Rahmenbedingungen für Offenheit und Vertrauen, die erst vernünftigen und persönlichen Austausch ermöglichen. Je mehr Menschen zusammenkommen, desto mehr bleiben die Gespräche an der Oberfläche. Und erreichen gerade hier Rekordwerte auf der nach oben offenen Bullshit-Skala.

Daher meide ich in der Klinik Menschenansammlungen. Oder flüchte, sobald mehr als drei Personen zusammenkommen. Trotzdem habe ich hier bisher niemanden, wirklich niemanden getroffen, mit dem man keine interessanten, anregenden oder erkenntnisreichen Gespräche führen kann. Dies geht aber nur zu zweit. Sowie die meisten schönen Dinge im Leben.

Alternative Heilmethoden

Montagnachmittag findet die Suchtgruppe statt. Die Runde, in der man über den Umgang mit Abhängigkeit, Abstinenz und Konsum spricht. Am Ende der Sitzung muss nicht nur die Anspannung, sondern auch der individuelle Suchtdruck benannt werden. Der ist hoch. Immer und bei allen. Klar, wenn man sechzig Minuten über sein bevorzugtes Rauschmittel und dessen stimulierende Wirkung spricht.

Geschickterweise ist im Anschluss die gemeinsame Kaffeetafel. Dort kann man den Suchtdruck mit Kuchen kompensieren. Eine fragwürdige Strategie der Suchtverlagerung wie ich finde. Aber die Adipositasstation ist gleich ein Haus weiter. Und freut sich sicher über Neuzugänge.

Um die Kuchenversorgung zu gewährleisten, werden jede Woche drei Patienten der Backgruppe zugeteilt. Deren größter Vorteil ist, dass man von der Bewegungstherapie befreit ist. Bewegungstherapie. Sie weckt bei mir böse Erinnerungen an den Schulsport. Selbst nach über zwanzig Jahren. Die Halle, das Im-Kreis-laufen-und-warm-machen, die kläglichen Versuche einer unmotivierten Truppe Ansätze von Tischtennis, Badminton oder Basketball beizubringen. Und immer als Letzte ins Team gewählt zu werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mittlerweile mag ich Sport. Sehr sogar. Und backen ebenfalls. Beides sind probate Mittel des Stressabbaus. Aber nicht hier. Nicht in der Gruppe. Und nicht, wenn ich es muss. Damit bin ich nicht allein. Dinge, die man gern tut, werden zur Zumutung, wenn man dazu gezwungen wird. Darin besteht Konsens. Und auch umgekehrt gilt: Alles, was verboten ist, will man unbedingt. Wer Kinder hat oder selbst eins war, kennt das.

Daher denke ich kurzfristig über alternative Therapiekonzepte nach. Alkohol und Drogen sind erlaubt, ja sogar Pflicht. Achtsamkeit, Sport und angenehme Aktivitäten sind verboten. Mal sehen, wie lange es dauern würde, bis sich konspirative Zirkel bilden, die heimlich Achtsamkeitsübungen nach Mitternacht durchführen und Alkohol und Drogen in Selbsterkenntnis für immer entsagen.

Ok. Realistisch betrachtet ist die Erfolgsquote dieser Therapieform wohl eher gering. Die Rahmenbedingungen würden sich kaum von dem bisherigen Leben der Patienten unterscheiden. Wahrscheinlich würde auch keine Krankenkasse die psychiatrische Flatrate-Party finanzieren. Schade eigentlich.

Zurück zur Backgruppe. Ich versuche sie als Übungssituation zu sehen. Unangenehme Pflichten und Tätigkeiten akzeptieren, indem man die Haltung dazu verändert. Gepaart mit der Einsicht, dass man sich manche Dinge einfach nicht schön trinken kann. Weder mit Wodka noch Tabasco. Das ausgerechnet die Bewegungstherapie für alle ausfällt, wenn ich zur Backgruppe muss, war meinen Bemühungen einer positiven Einstellung jedenfalls nicht zuträglich.

Zähneknirschend und mit Magenkrämpfen nach zwei doppelten Tabasco verbrachte ich den Vormittag nun backend. Und, ja, der Kuchen ist toll geworden. Und, ja, alle haben sich wahnsinnig gefreut. Worüber ich mich dann gefreut habe. Therapiekonzept aufgegangen.

Wenn es mit der Wissenschaft nichts wird, werde ich also in die Konditorenbranche wechseln. Oder ich widme mich doch der Erforschung, wann verordnete Maßlosigkeit zu Überdruss, Selbstregulation und eigenverantwortlicher Askese führt. Nicht im Selbstversuch wohlbemerkt. Soviel hat die Therapie dann schon erreicht. Aber in der Suchtgruppe lassen sich sicher Freiwillige finden. So befriedigend ist mein Kuchen dann nämlich auch wieder nicht.

Das Wort zum Sonntag

Warum sind die Verrückten immer dann ganz besonders verrückt, wenn ich Patientensprecherin bin?

Andererseits, wann hat man sonst die Gelegenheit Sonntagsansprachen zu wertschätzenden Umgangsformen und gegen jede Form von Diskriminierung zu halten.

Die Menschen wechseln, indiskutable Ansichten halten sich konstant. Das ist hier drinnen leider nicht anders als draußen.