Sieg der Vernunft

Donnerstagabends ist Akupunktur. Es werden die Suchtpunkte am Ohr punktiert. Vierzig Minuten im Sitzen bei Entspannungsmusik. Sie haben genau drei CDs. Und der entspannendste Effekt dieser Musik liegt darin, dass sie wieder abgeschaltet wird. Manchmal bin ich versucht die Anlage aus dem Fenster zu werfen. Was natürlich nicht geht. Die Fenster lassen sich nicht weit genug öffnen. Man könnte schließlich auch auf die Idee kommen, dem Abspielgerät hinterherzuspringen. Was mir nach vierzigminütiger Zwangsbeschallung nicht als die schlechteste Alternative erscheint.

Man kann sich von der Akupunktur befreien lassen. Zum Beispiel wenn man heroinabhängig war. Der Umgang mit Nadeln ist dann nicht so empfehlenswert. Trigger. Nach kurzer Abwägung entschied ich mich dagegen meine Biographie diesbezüglich anzupassen. Auf die Nadeln darf man auch so verzichten. Anwesenheitspflicht besteht trotzdem. Ich versuche es positiv zu sehen und nutze die wöchentlichen vierzig Minuten zum Lesen. Was natürlich ebenfalls verboten ist. Als ich das Buch einmal in Anwesenheit der Pflegerin rausholte, wurde ich umgehend zurechtgewiesen. Wir wussten beide, dass ich es sofort wieder aufschlagen würde, sobald sie den Raum verlässt. Aber ich sehe es als stille Übereinkunft: Ich tue so als würde ich ihre Regeln befolgen. Und sie tut so, als würde sie nicht merken, dass ich es nicht tue. Laissez-faire à la Psychiatrie.

Diesen Donnerstag wollte ich nicht hingehen. Ich war auf Krawall gebürstet. Mir dürstete nach Aufmerksamkeit. Konfrontative Auseinandersetzung ist auch eine Form der Zuwendung. Meine ehemaligen Partner wissen, was ich meine. Ich blieb der Akupunktur also fern. Und freute mich schon auf das Klopfen an der Tür und den bereits bekannten Dialog: „Frau Nuthouse, wir haben Sie bei der Akupunktur (wahlweise Kreativgruppe, Bewegungstherapie, äußere Achtsamkeit…) vermisst.“ – „Wenn ich gewusst hätte, dass ich Ihnen fehlen würde, wäre ich natürlich gekommen.“ Aber diesmal kam niemand um mich zu holen. Wie bedauerlich.

Stattdessen sollte ich am Samstagmorgen kurzfristig mit der Entzugsgruppe an der Akupunktur teilnehmen. Mein Hinweis, dass mir das jetzt so gar nicht in den Zeitplan passen würde, bewirkte nichts. Außer Missstimmung. Da die Akupunktur der Suchtis nur fünfundzwanzig Minuten geht, sollte ich zudem sitzen bleiben bis die mir verordneten vierzig Minuten um sind.

Natürlich. Ich nehme zwar keine Nadeln. Aber ich bleibe gern noch weitere fünfzehn Minuten alleine im Raum sitzen und starre die Wand an, sagte ich. Und das meinte ich tatsächlich ernst. Regeln sind Regeln und ihre Ausführung wichtiger als deren Sinnhaftigkeit. Das habe ich hier gelernt. Ich rede mir beruhigend ein, dass es keine Anzeichen von Anpassung sind, sondern die radikale Akzeptanz und der Gleichmut absurde Dinge einfach hinzunehmen.

Auf dem Weg zum Nadelraum hält mich die Pflegerin dann doch zurück. Sie hätte nochmal nachgedacht. Wenn ich die Akupunktur ohnehin nicht mitmache, könne ich auch mit den anderen gehen. Das wäre sonst irgendwie Quatsch.

Genau! Quatsch. Ich bin überrascht und versuche mich in verhaltenen Glückwünschen: „Schön, dass Sie das so sehen.“

Sie schielt auf meine Handtasche. „Aber Frau Nuthouse?“

„Ja?“

„Versuchen Sie bitte nicht zu lesen.“

„Ja. Versuchen werde ich es.“

Erfahrungsaustausch

Diese Woche fand der Borderline Trialog statt. Der Trialog ist ein monatlicher Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Professionellen. Er soll das Gespräch über unterschiedliche, die Krankheit betreffende Themen des Alltags „auf Augenhöhe“ ermöglichen.

Diesmal zum Thema „Borderline und Sexualität“. Ich erwartete, dass es ziemlich voll werden würde. Erinnerte ich mich doch an den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, bei der eine Nebensession zum Thema „Soziologie der Sexualität“ angeboten wurde. Die hereinströmenden Massen füllten nicht nur den kleinen Hörsaal, sondern bevölkerten sogar den Flur. Das Thema zog übergreifend: Organisationssoziologen, Arbeitssoziologen, Familiensoziologen, Stadtsoziologen – und mich. Die Vorträge der drei jungen Forschenden standen in keinem Verhältnis zum Auftrieb. So lernten wir etwas über den Einfluss gemeinsamer sozialer Netzwerke auf das Fremdgehverhalten in Paarbeziehungen, die Analyse weiblicher Diskursmuster in Reaktion auf männlichen Pornokonsum und eine junge Doktorandin beeindruckte mit soziologischer Feldforschung in Swinger Clubs. Methode: Teilnehmende Beobachtung. Kein Scherz. Aber ich schweife ab.

Entgegen meiner Erwartung war es nicht gerade überlaufen. Ungefähr 40 Personen kamen zusammen. Vielleicht war es abschreckend, dass es keine externen Fachvorträge gibt. Die Veranstaltung lebt davon, dass aus dem Nähkästchen geplaudert wird. Ein ziemlich delikates Nähkästchen in diesem Fall. Als Bewohner einer psychiatrischen Einrichtung ist man durch vorherige Therapien und diverse Diagnosegespräche den Seelenstriptease zwar gewohnt. Über Sexualität zu sprechen, scheint für viele trotzdem ein Tabu zu sein. Nicht für alle, wie ich später feststellen konnte.

Es gab eine Vorstellungsrunde. Die Mehrzahl sind „Betroffene“ und ein paar wenige Angehörige. Die Professionellen rekrutierten sich hauptsächlich aus den Mitarbeitern unserer Station. Als ich an der Reihe bin und „Betroffen“ sage, muss ich lachen. Aus Verlegenheit vielleicht. Oder weil ich es absurd finde, mich von meiner eigenen Persönlichkeitsstruktur als „betroffen“ zu bezeichnen.

Glücklicherweise wurde die Gruppe dann geteilt. Ich blieb in dem Teil, in dem sich nur unser Stationsarzt, zwei Pflegerinnen sowie Mitpatientinnen befanden, die zu Sexualität eher kein Verhältnis haben. Diese Entscheidung stellte sich als weise heraus. So blieb mir das Kopfkino erspart, mir meine Mitpatientinnen täglich beim Spannungsabbau in Swingerclubs vorstellen zu müssen. Die detailreichen Anekdoten von Gangbang-Partys, die mir ungefragt beim Mittagessen sprichwörtlich auf’s Brot geschmiert wurden, hatten mir gereicht. Nun war es nicht so, dass in meiner Gruppe nicht von Partnertausch, Sexsucht und BDSM gesprochen wurde. Diesen Menschen werde ich nur wahrscheinlich nie wieder begegnen.

Ich möchte behaupten, dass die Erfahrungsberichte in meiner Gruppe nicht repräsentativ sind. Bestimmte Personen nehmen viel Raum und Gesprächszeit ein. Die meisten sagen gar nichts. Das Spektrum der gelebten Sexualität bei Borderlinern scheint mir prinzipiell dem Durchschnitt der Bevölkerung nicht unähnlich. Mit etwas stärkeren Ausprägungen bei den Extremen vielleicht. Das kann auch damit zusammenhängen, dass die genetische Veranlagung zu einer emotional instabilen Persönlichkeitsstruktur häufig durch Missbrauch im Kindesalter, Vergewaltigung oder andere schwere Traumata ausgelöst wird. Dass diese Erfahrungen zu einem anderen Umgang mit Sexualität führen, dürfte auf der Hand liegen. Dies reicht von kompletter Asexualität bis zu Formen von Promiskuität, die von Therapeuten als selbstverletzendes Verhalten eingestuft werden.

Ich versuche den Abend mal zusammenzufassen: Sexualität kann für Borderliner viele Funktionen übernehmen. Es kann zum Spannungsabbau, zur Erhöhung des Selbstwertes, zur Überkompensation unliebsamer Emotionen oder – wie vorab erwähnt – zur Selbstverletzung verwendet werden.

Wann Sexualität überhaupt als Problem oder Problemverhalten gewertet werden kann, lässt sich mit der Pauschaldefinition im psychiatrischen Kontext beantworten: Wenn das Verhalten für die Betroffenen selbst ein Problem darstellt oder sich und anderen dadurch kurz- oder langfristig Schaden zugefügt wird. Kant hat es etwas hübscher formuliert. Die Debatte, ab wann sexuelle Aktivitäten als promisk einzustufen wären – wie viele? wie oft? – war ermüdend. Ein aufklärendes Eingreifen durch die Experten wäre wünschenswert gewesen.

Stattdessen hätte man intensiver über Moral, christliche Werte und Sozialisierung diskutieren sollen. Viele geraten wegen ihres Sexuallebens in innere Konflikte und werten sich ab. Nur weil ihr Verhalten den ihnen anerzogenen Konventionen zuwiderläuft. Wie andere Beispiele zeigten, kann eine Befreiung aus dem Korsett der gesellschaftlichen Sexualmoral heilende Wirkung haben und zu einer höheren Lebenszufriedenheit führen.

Auffällig bei der recht überschaubaren Anzahl der Teilnehmer war der hohe Anteil an aktiv BDSM-Praktizierenden. Wobei die weiblichen Betroffenen nahezu ausschließlich im Bereich des Submissiven unterwegs sind. Betrachtet man die Tendenz zur Selbstverletzung und –Abwertung kann man darin durchaus eine küchenpsychologische Logik finden, so wenn man denn will. Inwiefern ein Rollentausch auch therapeutisch-heilende Funktion übernehmen könnte, sollte mal Gegenstand empirischer Forschung werden.

Am Ende wurden die bis dahin schweigenden Professionellen gefragt, ob sie denn was mitnehmen konnten. Ja, es wäre sehr aufschlussreich gewesen. Danke. Ja, für mich auch. Zumal die Erfahrungsberichte anderer die eigenen Verhaltensmuster deutlich relativieren. So makaber es klingt, „Vergleichen“ wird in einem der Lehrbücher tatsächlich auch als Mittel zur Stressregulation empfohlen: „Denken Sie an Menschen, denen es schlechter geht. Lesen Sie z.B. die BILD-Zeitung, beschäftigen Sie sich mit Unglücken und Hungersnöten (…)“ (Bohus/Wolf 2009: 124). Ich möchte ergänzen: Oder lassen Sie sich einweisen und gehen in Selbsthilfegruppen. Das hat schließlich auch in Fight Club funktioniert. So verlasse ich die Veranstaltung mit dem Gefühl, nicht nur eine extrem fröhliche Depressive, sondern auch eine verdammt wenig gestörte Persönlichkeitsgestörte zu sein.

Der nächste Trialog findet übrigens zu „Borderline und das innere Kind“ statt. Bin mal gespannt, wie sich das zu BDSM- und Gangbang-Partys verhält.

Humorfreier Raum

In einer Mischung aus Übermut und Schabernack hatte ich zwei Postkarten an das schwarze Brett der Station gehängt:

bipolar (1) therapy

Ihre Verbleibedauer betrug circa vier Stunden. Zur heutigen Vollversammlung wurde der Punkt „Schwarzes Brett (Aushänge)“ auf die Tagesordnung genommen. Es folgte eine zehnminütige Standpauke über die Funktion der Aushangtafel, die Hoheit über die Aushangtafel, fragwürdigen Humor und die Ernsthaftigkeit von Therapie.

Falls noch Hoffnung oder Zweifel bestanden: Nein, sie verstehen wirklich keinen Spaß hier.

Burn it

Ich habe mich entschlossen alles an Erfahrungen mitzunehmen, die mein Aufenthalt mir bieten könnte. Außerdem war mir langweilig. Sehr langweilig. Gegen die hiesige Ereignislosigkeit bat ich den Pfleger um die Hitzsalbe. Extra stark. Das Vortäuschen extremer Gemütszustände war nicht einmal notwendig. Während er die Salbe auf meinen Unterarm aufträgt, warnt er vor Augenkontakt. Ich denke eher an andere Körperstellen.

Erst passiert nichts. Dann Jucken. Gefolgt von leichtem Brennen. Die Haut verfärbt sich rot. Als Kind hatte ich einprägsame Kontakte mit Brennnesseln. Das fühlte sich ähnlich an. Man könnte sich zum Skillen auch damit mal auspeitschen. Diesteln hingegen zählen wohl schon als selbstverletzendes Verhalten. Ich werde das in der Gruppe ansprechen. Die Tauglichkeit von Flora und Fauna zur Anspannungsregulation ließe sich mit einer Exkursion erforschen. Outdoor-Skillen. Um bestimmte Pilzsorten sollte man mit der Truppe allerdings einen Bogen machen.

Ich betrachte den Arm. Irgendwie enttäuschend. Nach dreißig Minuten fängt es dann doch an interessant zu werden.

BurnIt1 BurnIt2

Die Wirkung wird die nächsten Stunden intensiver werden. Und die ganze Nacht anhalten. Alles, was mit meinem Arm in Berührung kommt, wird heiß. Und rot. An der Landkarte meines Körpers lassen sich meine Schlafpositionen ablesen. Und beim Duschen nachspüren.

Mein Fazit: Als Skill scheint mir die Salbe ungeeignet. Wer aber intensive Körperempfindungen zu schätzen weiß, wird die Salbe lieben. Abschließend bleibt zu hoffen, dass es nicht noch langweiliger wird. Wer weiß, welche Selbstversuche mir als nächstes einfallen.

Hulk

Ich habe eine gewisse Empathie für Superhelden entwickelt. Ganz besonders Hulk. Ich glaube, Hulk war Borderliner. Wenn er wütend wird, verwandelt er sich vom Wissenschaftler in ein muskelbepacktes grünes Monster minderer Intelligenz und Selbstkontrolle.

Ich werde nicht grün. Aber etwas wächst aus mir heraus. Etwas das größer ist als ich selbst. Ich habe das Gefühl um das Eineinhalbfache meiner Körpergröße anzuwachsen. Ich fühle mich stark. Unkaputtbar. Nichts, das mich stoppen könnte. Es ist ein hochintensiver, rauschhafter Zustand der keine Fragen zulässt und in dem man nur noch eine Antwort kennt. Ein großartiger Zustand – wenn man vorhat Zivilisationen auszulöschen, Dörfer dem Erdboden gleichzumachen oder gegen eine Armee allein in den Krieg zu ziehen. Zugegeben, solche Einsatzfelder bieten sich selten. Wenig Gelegenheit meine vermeintlichen Superkräfte sinnvoll oder produktiv zu nutzen. In zehn von zehn Fällen führen sie zu nichts Gutem. Für niemanden. Am wenigsten für mich selbst. Daher soll ich lernen wollen, mich nicht der Adrenalinekstase hinzugeben, sondern das Monster zu bekämpfen.

Nun hab ich es zum ersten Mal bezwungen. Die Wahl der Waffen lag in einem Eimer Eiswasser, Tabasco, Schokolade und menschlicher Zuwendung. Als ich mich selbst auf dem Badezimmerboden sitzen sah, mit nassen Haaren, verlaufenem Make-up, vor besagtem Eiseimer hatte ich den Eindruck, dass hier irgendwas falsch läuft. Das Gefühl übermenschlicher Stärke weicht Traurigkeit. Und Scham. Und Ohnmacht. Vor meiner Krankheit, von der es mir in dem Moment schwer fällt, sie als bloße Struktur zu bezeichnen. Ja, ich habe das Monster besiegt. Noch schwieriger ist es sich mit dem zu befassen, was zurückbleibt.

Ich habe es nachgeschlagen. Hulks Verwandlung wird auf eine dissoziative Identitätsstörung zurückgeführt. Es ist die Inkarnation seines inneren verletzten Kindes, dessen Hilflosigkeit durch Wut und Raserei überkompensiert wird. Ein verlässliches Gegenmittel wäre Liebe, Trost und Zuwendung. Aber wer will schon große grüne Monster umarmen?

Angst

Ich hatte heute ein Doppelgespräch mit meiner Therapeutin und meinem Bezugspfleger. Nachdem ich letzte Woche brav und nach über der Hälfte der Zeit endlich meine Therapieziele habe vorstellen dürfen, ging es darum sich abzustimmen wer mich in welchen Bereichen auf welche Weise bei der Zielerreichung unterstützen kann. Operative Arbeitsteilung, Koordination und Kooperation. Das kann ich nur gutheißen.

Einleitend überrascht mich meine Therapeutin jedoch mit der Frage, ob ich mir meiner Wirkung auf andere bewusst wäre. Mein Gesichtsausdruck dürfte das „Hä?!“ in meinem Kopf einigermaßen widerspiegeln. In den Teambesprechungen sei ihr aufgefallen, dass man möglichst versuche die Anregungen von Frau Nuthouse umzusetzen. Man versuche mir alles recht zu machen. Kurz, das Team hätte Angst vor mir. Vor meinem Sarkasmus. Und Gegenargumentationen.

Ok. Ich gebe zu, dass mich das ein bisschen stolz macht. Ich versuche es aber nicht zu zeigen. Stattdessen habe ich ernsthaft etwas gesagt wie: Verstehe ich gar nicht. Ich bin doch ein echtes Superschnucki. Und versuche diese Aussage mit einem zuckersüßen Lächeln zu unterstreichen. Meine Therapeutin lächelt zurück. Ich glaube, sie glaubt mir nicht, dass ich das selber glaube.

Ich habe ehrlich gesagt vergessen wie das Gespräch dann diesbezüglich weiterging. Ich habe mir aber vorgenommen meinen Bezugspfleger zu fragen, ob er auch Angst vor mir habe. Das wäre irgendwie schade. Und einer fruchtbaren Zusammenarbeit auf Dauer nicht zuträglich. Zumal er vorschlug mit mir an meinen dysfunktionalen Beziehungsmustern arbeiten zu wollen. Darauf freue ich mich jetzt schon.

Trennungsschmerz

Man muss lernen mit Schmerz und Verlust umzugehen. Das Infoblatt „Trauer“ hilft einem dabei:

Wenn wir einen endgültigen Verlust erleiden, trauern wir. Der Trauerprozess läuft in Phasen: Zunächst tendieren wir dazu, den Verlust zu leugnen. Dann folgt häufig eine Phase der Wut und Auflehnung, gefolgt von Niedergeschlagenheit. Schließlich mündet der Prozess in die radikale Akzeptanz, in das „Annehmen“ des Verlustes und damit auch der Trauergefühle. Das Annehmen des Verlustes ist der Schlüssel zur erfolgreichen und damit auch beendbaren Trauer.“

Ich habe heute meinen Zahn verloren. Nach der gestrigen Wurzelbehandlung ist die Außenwand weggebrochen. Der Zahnarzt konnte mir keine Hoffnungen machen. Der halbe, verbliebene Stumpen wird die Tage gezogen. Ich habe Zeit um Abschied zu nehmen. Abschied von einem weiteren Backenzahn und den 3.000 Euro, die das Implantat kosten wird. In der Phase der Wut habe ich dem jungen Zahnmediziner nun doch zu einer Karriere als Unterwäschemodell geraten. Oder zumindest irgendwas, wo er nur aus sich herausschauen und keinen Schaden anrichten kann.

Mittlerweile bin ich zwischen Niedergeschlagenheit und radikaler Akzeptanz angelangt. Und versuche den Vorfall als Chance zu begreifen, um im Kleinen zu üben, was mir im Großen noch bevorsteht: Der Umgang mit Verlusten und das Aushalten von Traurigkeit. Denn ich bin nicht gern traurig. Wer ist das schon? Ich bin lieber wütend. Wut geht nach vorne. Wut ist stark. Traurigkeit macht schwach und verletzlich.

Grundsätzlich entstehen die meisten Probleme durch die Vermeidung von Trauer. Daher ist es in aller Regel gut und notwendig, wenn der Trauerprozess durchlebt und abgeschlossen wird.“

Ja, doch. Ja, doch. Ja. Ich habe einen ganzen Speicher voll Ereignissen für die ich traurig hätte sein sollen. Aber nie über die Phase des Leugnens und Verdrängens oder der Wut hinausgekommen bin. Und langsam wird es eng dort. Ich werde wohl anfangen müssen, den emotionalen Müllhaufen Schicht für Schicht abzutragen. Aber erst, wenn ich meinen Zahn fertig betrauert und den Trennungsschmerz durchlitten habe.

Wenn Trauer gerechtfertigt ist, macht es Sinn sich darauf einzulassen und dem Prozess Zeit einzuräumen.“

Genau. Auf das blutige Loch in meinem Kiefer blickend, wünschte ich mir übrigens alle Trennungen ließen sich mit steriler Stahlzange und örtlicher Betäubung durchführen. Mein Leben wäre einfacher. Und der verdammte Speicher nicht so voll.

Primär- und Sekundärgefühle

Jeder hat mal einen schlechten Tag. Auch wenn es hier nicht den Eindruck macht, habe ich meistens gute, ja sogar sehr gute Tage. Heute bin ich bereits mit einer Stimmung aufgewacht, die nichts Gutes verheißen konnte. Und die Aussicht auf eine dreistündige Wurzelbehandlung machte sie nicht eben besser. Ich hatte mich zudem in einen Studentenkurs eingetragen. Man will schließlich den Nachwuchs fördern. Und mehr Geld für Schuhe zur Verfügung. Es stand mir somit nicht nur eine Wurzelbehandlung bevor, sondern eine Wurzelbehandlung von jemanden, der wahrscheinlich noch nie zuvor eine Wurzelbehandlung gemacht hatte. Zu einer diffusen Missstimmung mischten sich nun Angst und Panik. Auch Gedanken an die zu erwerbenden Schuhe halfen wenig.

Wieder Zeit Erlerntes anzuwenden: Entgegengesetztes Handeln. Ich setze ein Lächeln auf. Die verkrampfte Fratze im Spiegel erschrickt mich  selbst. So vor die Tür zu gehen birgt die Gefahr, gleich in einer Zwangsjacke zurück auf’s Zimmer gezerrt zu werden. Ok. Vergessen wir das mit dem Lächeln. Anstatt meinem erstem Handlungsimpuls zu folgen und die Kopfhörer mit „Rage against the machine“ aufzusetzen, höre ich fröhliche Musik auf dem Weg zum Zahnarzt. Das hilft tatsächlich etwas. Der junge Student, der mich als mein Zahnmediziner begrüßt, trägt weiter zur Stimmungsaufhellung bei. Falls es mit der Zahnarzterei nichts werden sollte, würde ich ihm eine Karriere als Unterwäschemodell empfehlen. Oder so. Nur schade, dass man bei einem Zahnarztbesuch selbst nicht die beste Figur macht. Schon gar nicht, wenn einem ein blaues Gummituch aus dem Mund heraus über das halbe Gesicht gespannt wird unter dem sich der Speichel sammelt und in kleinen Rinnsälen das Kinn runterläuft.

Zurück in der Klinik ist es wieder da. Das Gefühl der Leere, Einsamkeit und Traurigkeit. Meine hiesige Therapeutin hat dies als meine Hauptbaustelle identifiziert, an der ich arbeiten soll. Ich setze mich hin und fülle ein Gefühlsprotokoll aus. Freiwillig. „Das Gefühlsprotokoll kann Sie unterstützen aktuelle Gefühle zu erkennen und zu benennen.“ Aha. Das Protokoll bestätigt mir, dass ich traurig bin. Warum weiß das Protokoll auch nicht. Im zweiten Teil des Protokolls soll man einschätzen, ob das Gefühl angemessen ist und, ob der damit verbundene Handlungsdrang für mich oder andere langfristig von Nachteil ist. Der damit verbundene Handlungsdrang…Was täte ich denn jetzt gern? Die Antwort ist einfach: Ich sehne mich nach Nähe, Körperlichkeit, Sexualität. Das hilft mir jetzt aber auch nicht weiter. Oder doch. Ich gehe zu meinem Bezugspfleger. Der hat nämlich gerade Dienst.

Ich erläutere ihm die Situation und meinen Handlungsdrang. Eindringlich. Er hilft mir zu versuchen die Ursachen für meine Gefühle zu identifizieren. Wir reden über die Funktion von Gefühlen. Gefühle sind Reaktionen auf Situationen und zeigen einem die der Situation angemessene Verhaltensweise auf. So wie Angst sinnvollerweise zu Flucht führt. Spezifische Gedankengänge können jedoch das angemessene Primärgefühl und den dazugehörigen Handlungsimpuls in Sekundärgefühle umwandeln. So kann emotionale Verletzung und Traurigkeit in Wut und Gewalt umschlagen. Ich meine zu verstehen, worauf er hinaus will.

Zum Abschluss händigt er mir die Infoblätter zu Einsamkeit und Traurigkeit aus. Das Infoblatt „Einsamkeit“ empfiehlt als dem Gefühl entsprechend sinnvolle Handlung „Zärtlichkeit und Sexualität“. Ich muss laut lachen. Ich frage ihn, ob sie das auch als Skill im Angebot hätten. Ich warte die Antwort nicht ab und verlasse das Zimmer. Als ich wieder vorbeigehe, sehe ich ihn weit aus dem geöffneten Fenster gelehnt. Vielleicht denkt er auch über der Situation angemessene Verhaltensweisen nach. Allein die Vorstellung reicht, dass meine Traurigkeit verflogen ist. Es stimmt: Es hilft über seine Gefühle zu reden.

Der Druck steigt

Mir fehlt zunehmend die kritische Distanz um das hier mit einem humorvollen Blick von außen zu betrachten. Das System dringt in mich ein.

Ich bin angespannt. Meine Nervenbahnen sind hochtönig surrende Saiten. Die bei leichtestem Anschlag zu reißen drohen. Vielleicht bin ich immer so. Draußen im Alltag. In meinem Job. Mit Freunden. Und merke es nur nicht.

Hier sind wir gezwungen in uns reinzuhören. Uns dauernd zu fragen, wie es uns geht. Morgens, mittags, abends. Vor jeder Gruppe, nach jeder Gruppe. Man wird hypersensibilisiert für seine eigene Befindlichkeit. Anfangs war ich irritiert über die Anspannung aller. Verrückte, dachte ich. Sensibelchen. Oder faule Ausrede. Denn bei Hochanspannung dürfen wir die Gruppen verlassen und skillen gehen. Anspannung regulieren. Alles Verrückte. So wie ich. Ich geh jetzt auch skillen. Treibt mich der Laden in den Wahnsinn?

Die stete Abfolge aus Gruppen, Sitzungen, Gesprächskreisen, Mahlzeiten. Mit dauernd wechselnden Gesichtern. Leute kommen und gehen. Ich merk mir nicht mal mehr die Namen. Zu müde mich auf neue Biographien einzulassen. Verschwunden, hat man sich grad an sie gewöhnt. Energieverschwendung.

Zwischen den Sitzungen dreißig bis neunzig Minuten Pause. Zu wenig Zeit, um sich mit etwas anderem zu beschäftigen; zu viel um konstant betriebsam zu bleiben. Oder sein Beruf- und Privatleben weiterzuführen. Es fällt mir zunehmend schwer den Kontakt zu halten. Ich antworte kaum noch auf Anrufe, E-Mails, Kurznachrichten.

Stattdessen Gefühlsprotokolle und Verhaltensanalysen. Was haben Sie in dem Moment gedacht und gefühlt? Wie reagiert ihr Körper? Sind ihre Gefühle der Situation angemessen?  Woher kommt das Gefühl? Was ist das Primärgefühl dahinter? Was sind ihre Bedürfnisse? Werden Sie denen gerecht? Können Sie Anfälligkeitsfaktoren reduzieren? Trinken Sie genug? Schlafen Sie ausreichend? Was können Sie tun um die Situation zu verbessern? Wie ist ihre Anspannung? Hoch, höher, Amok.

Ich muss raus. Ich verlasse die Klinik. Spontan. Lasse meine Sitzungen ausfallen. Wohltuendes Eintauchen in das, was man als Normalität bezeichnet. Vertraute Orte, Plätze. Menschen, die ich nicht kenne. Aber die ich durch die Alltäglichkeit ihres Tuns wie Freunde betrachte. Abgrenzung.

Zurück. Und wiederhole mein Mantra der Normalität in Endlosschleife: Das ist nicht die Realität. Das ist nicht mein Leben. Mein Leben findet draußen statt. Und wartet auf mich. Hoffentlich.